.   Motion Picture
532k download Image


Verleihe :

La Sortie des Ouvriers
de l'Usine Lumière à Lyon
© 1984
3 min 23 sec
stumm
16 mm
Sixpack Film (Wien)
Light Cone (Paris)
 

 

 

 

  In meiner filmischen Arbeit lassen sich verschiedene Werkgruppen isolieren. In der Zeit von 1982 bis 1984 entstand eine Serie struktureller Filme, deren Formen bis auf den einzelnen Kader hin durch abstrakte oder mathematische Konzepte vorherbestimmt waren.
Zeitgleich konzentrierte sich meine theoretische Beschäftigung mit dem Medium auf semiotische Aspekte filmischer und kinematografischer Codifizierungen.
Auf der Suche nach den grundlegendsten Codierungen der Kinematografie stieß ich auf den Hell-Dunkel-Code, aus dem alle Schattierungen, mithin alle Bilder aufgebaut sind. Dieser Code bildet die Grundlage des (potentiell) illusionistischen Charakters des Films, dem Schein des bewegten Bildes, das aus dem Filmkorn und der Abfolge der einzelnen starren Fotogramme entsteht.
Am Ende des Weges hin diesem Point Zero der Kinematografie entstand das Konzept zu meinem Film "Motion Picture (La Sortie des Ouvriers de l´Usine Lumière à Lyon)". Dieser Film ist eine Rückkehr zum Beginn der Kinematografie, semiotisch wie auch historisch, da er sich des ersten Films der Brüder Lumière zuwendet, dem ersten Werk der Kinogeschichte überhaupt.
Auf eine Fläche von 50 x 80 cm wurden in der Dunkelkammer 50 unbelichtete 16mm-Filmstreifen aufgezogen, auf die in der Folge ein Kader aus La Sortie des Ouvriers de l´Usine (Arbeiter verlassen die Fabrik) projiziert wurde. Dieser Film wurde im Frühjahr 1895 von den Brüdern Auguste und Louis Lumière vor dem Werktor ihrer Fabrik gedreht. Die Aneinanderreihung der entwickelten Einzelteile ergibt den neuen Film Motion Picture, der das Ausgangsbild wie die Seite einer Partitur liest: innerhalb der Streifen von oben nach unten und in ihrer Abfolge von links nach rechts.


Peter Tscherkassky

"Was bereits das Konzept von Motion Picture unmittelbar deutlich werden läßt, ist die Verzeitlichung, die 1895 mit der Erfindung der Kinematografie der fotografischen, 'realistischen' Raumdarstellung widerfahren ist. Es ist nicht zuletzt diese Fähigkeit zur Darstellung eines fragmentierten und dynamisierten Raums, welche den Film zum Leitmedium der Moderne werden läßt.
Zugleich verweist Motion Picture auf den aktuellen historischen Umbruch: Pointiert bringt dieses 'bewegte Bild' seinen Inhalt zum Verschwinden. Seiner Zergliederung in kleinste Einheiten entspricht dem Trend zur fortschreitenden Abstraktion innerhalb unseres Raum- und Zeiterlebens. Forciert wird diese Segmentierung, diese Tendenz zur Abstraktion von den heute noch 'neu' genannten Medien des Computerzeitalters. Daß sich unser aller Raum- und Zeitempfinden von jenem vor 1895 grundlegend unterscheidet, ist gesichert. Über dessen Qualität in den kommenden Jahrzehnten kann nur spekuliert werden. Das unbändige Flackern während der Projektion von Motion Picture jedenfalls prognostiziert einen Verlust des Bezugs unserer Bildwelt mit den Resten dessen, was heute noch als 'Wirklichkeit' verhandelt wird."


Gabriele Jutz

"Auf der Leinwand erscheint genau jener Vorgang des Aufrasterns und Abtastens einzelner Bildpunkte, den wir von der elektronischen Bild-Synthese des Videoschirms kennen. Ein Kader aus dem ersten Bewegungs-Bild wird also analog einer Technik re-animiert, die eben jene Bewegungs-Bilder des Films zu verdrängen droht."


Karl Sierek

"Motion Picture ist eine mikroskopierende Annäherung an den kinematographischen Prozeß, eine Zerlegungsarbeit an der Basiseinheit des Laufbilds: der Einzelkader ab ovo. Tscherkassky wählt für seine Suche nach der fundamentalen, interessanterweise binären Tatsache des Kinos den berühmten ersten Lumière-Film La Sortie des Ouvriers de l'Usine Lumière à Lyon. Motion Picture ist nichts anderes als ein in ein paar tausend neue Kader zerlegte, weil auf unbelichtete Filmstreifen projizierter Einzelkader daraus. Das Ergebnis: schwarzweiße, zwischen helleren und dunkleren Flächen flackernde Bilder.
Das Experiment in filmischer Mengenlehre attackiert pointiert das illusionistische Vergnügen am Kino und erinnert gleichzeitig an die Anstrengungen der Physiker, hinter Proton und Neutron immer neue Kerne der Materie auszumachen sowie überraschenderweise (worauf Karl Sierek hingewiesen hat) an den Bildaufbau im Fernsehen."


Bert Rebhandl

  close