Michael Palm

LIEBESFILME
Zu einigen Arbeiten von Peter Tscherkassky

Im Eröffnungskapitel seines Buchs Le Signifiant imaginaire. Psychanalyse et cinéma [1] beschreibt Christian Metz, was es heißt, als Theoretiker das Kino zu lieben: "[...] idealiter sollte man das Kino nicht mehr und doch noch lieben: Man sollte es geliebt haben und sich lediglich von ihm loslösen, indem man sich ihm wiederum von der anderen Seite her nähert, um es mit der selben Begeisterung ins Auge zu fassen, mit der man es einst geliebt hat" [2] – das Kino als alte Flamme, von der man sich unter Schmerzen getrennt hat, nur um dann zu ihr oder ihm zurückzukehren und – die alten Leidenschaften (und Streitereien) vermeidend – von hinten zu kommen. Man darf das Kino nicht lieben – und doch...
Geht man davon aus, daß die Liebe zum Kino allein kaum kritische Erkenntnis über das Kino zuläßt (man muß sich die Liebe innerhalb dieser Argumentationslinie allerdings eher als blinde Affenliebe vorstellen), muß das Ansinnen, die kinematographische Illusion aufzuklären, von einem sadistischen Impuls geleitet sein. Anders ausgedrückt: Man muß das Kino einerseits noch lieben, um die libidinöse Beziehung zu ihm nicht aus den Augen verlieren, und andererseits doch nicht mehr lieben, um die imaginäre Beziehung mit einem symbolischen Diskurs, einem Sprechen/Denken über zu überwinden.[3]

Was Metz´ Formel hier noch sehr griffig über die Voraussetzungen seiner Theoriebildung zu Film und Kino aussagt, mag wohl für einen Teil der filmavantgardistischen Praxis (die Metz im übrigen kaum interessiert) noch hingehen – für einen guten Teil der Arbeiten von Peter Tscherkassky erscheint sie allerdings nahezu konstituierend. Sein Liebesfilm (1982) verhält sich verblüffend analog zu dem von Metz beschriebenen Verhältnis. Wir sehen eine Frau und einen Mann vor einem neutralen weißen Hintergrund aufeinander zugehen, sich zum Kuß anschickend, links davon das Perforationsloch des Films (im Film). Bevor jedoch die Vereinigung gelingt, springt der Bewegungsablauf an seinen Ausgangspunkt zurück, und das ganze geht von vorne los usf. – dies alles im hämmernden Stakkato einer Endlosschleife, die in sich leicht variiert und sich dem Kuß gegen Ende des Films ein paar Filmkader mehr angenähert hat.
Der Filmkuß, selbst schon geronnene Stereotypie im Kino, der meist die Verheißung sexueller Vereinigung ausspricht, bleibt aber utopisch und brutal aus dem filmischen Universum verbannt. Die liebevolle Beziehung gelingt nicht. Was hingegen zu sehen ist: das zwanghafte Durchspielen des ewiggleichen, manisch wiederholten Begehrens, das auch unser Begehren ist, welches aber keinen homogenen Abschluß und Stillstand finden kann. Dauer-Liebesentzug.
Interessant daran ist, daß Tscherkassky bloß auf eine Konvention des Erzählkinos – der Vereinigung des heterosexuellen Paars im Kuß – rekurieren muß, um dann sofort und unerbittlich ein immanentes, redundantes Spiel damit treiben zu können.[4] Diese Immanenz löst den (nicht zu sehenden) Kuß aus seiner üblichen und eindeutigen Verkettung im Erzählfluß des Genres "Liebesfilm" und läßt ihn in seiner ganzen Ambivalenz im reinen Zeitrhythmus – mithin im Denken – im Liebesfilm explodieren.

Simpler und lustiger, doch um nichts weniger gerissen verfährt Shot-Countershot (1987), die Parodie auf einen gängigen kinematographische Modus der Bildverknüpfung – als one-joke-found-footage-movie. Ein Cowboy schießt ins rechte Off, doch als sei das Projektil an der Bildkante abgeprallt, erfolgt nicht der herkömmliche Gegenschuß auf den Beschossenen, sondern ein buchstäblicher Schuß auf den Cowboy. Und auch hier: ein singuläres Bild; die kausale Verkettung der Bilder ist gerissen, aus dem raumzeitlichen Anschluß wird ein Anschuß aus einem gähnend-abstrakten Außenfeld. Wer hat geschossen? Der Cowboy, sein Double oder gar der Andere?



Sadistisch daran wäre der Vorgang des Herauslösens, Herausschneidens eines Teils aus der "genetischen Sequenz" des transzendenten ganzen, guten Objekts (Das Kino!). Außerhalb seiner organischen Strukturierung verweist das Stück Film, das nun ein autonomer Film geworden ist, nur mehr auf sich selbst und offenbart die ihm eigene Fähigkeit zur Sinnstiftung. Außerhalb des symbolischen Rasters des Erzählablaufs führt es sich zunächst einmal auf wie eine wildgewordene Maschine, die sich gegen ihren Schöpfer erhebt – hier setzt auch jenes bedrohliche Moment in Liebesfilm ein, jene schmerzhafte Redundanz, die das Publikum bei einer Vorführung die Projektionskammer stürmen ließ. Doch gerade aus dieser Redundanz wird ersichtlich, daß es außerhalb des Bildfelds hier nichts mehr gibt, was einem imaginären Vorstellungsraum überlassen bliebe. Spielt Shot-Countershot noch ironisch mit dieser Grenze raumzeitlicher Kohärenz und der Möglichkeit eines Außerhalb, so holt die ständig repetierte Bewegung des Paars und das Gesetz des Rhythmus, der den Takt angibt, im Liebesfilm alles ins Bild herein und läßt es zum Ganzen werden. Daneben, davor, außerhalb ist nur schwerlich etwas denk- und vorstellbar, schon gar kein räumlicher Zusammenhang. Am Schluß des Films bleibt das Bild stehen und übrig bleibt das weiße, körnige Filmlicht und Kratzer und Staubpartikel als Projektionen auf der Leinwand. Hier kann der Film nur mehr sich selbst zeigen.

Anhand dieser beiden Beispiele läßt sich einer der Bezugsrahmen bestimmen, in denen sich Tscherkasskys Filme bewegen. Auf der einen Seite ist da das klassische Erzählkino mit seinen Codes und Zentrierungsstrategien, wie es Janet Staiger, David Bordwell und Kristin Thompson theoretisiert und beschrieben haben [5]. Doch dieser Rahmen läßt sich noch ausdehnen, denn Tscherkassky geht in seinen Filmen (über den tradierten Seitenpfad der Befragung des Filmmaterials) noch weiter, bis hin zur Problematisierung des mechanisch-materiellen und mentalen Kinoapparates selbst. Das ist ein ziemlich breitspuriges Unterfangen, zumal es zwangsläufig von einer (psychoanalytischen) Ontologisierung des Kinos ausgehen muß bzw. einem Diskurs, der unterhalb des Horizonts stilistischer, ästhetischer oder inhaltlicher Anmutung wirkt. Eine Art Unbewußtes des Films sozusagen [6]. So weist Tscherkassky immer wieder darauf hin, daß es ihm darum ginge, verborgene Bedeutungen freizulegen und diese zur Grundlage filmischer Erfahrung zu machen, um die Art und Weise des kinematographischen Zugriffs auf Welt direkt erfahrbar und lesbar zu machen [7]. Dabei geht es nicht allein um die Untersuchung des jeweiligen Modus der Sinnstiftung oder der Hervorbringung von Schaulust im Erzählkino, sondern um das radikale Infragestellen und lustvolle Offenlegen der Signifikanten als solche.

Diese Intention geht von Metz´ psycholinguistischem, von Freud, Lacan und Melanie Klein informierten Theorem des "imaginären Signifikanten" aus. Demnach spricht der Film gleichsam in einer symbolischen Ordnung, die diesen imaginären Signifikanten inszeniert. Als Aufzeichnung realer Objekte, als deren Phantom, Double oder Spiegelbild, wird er im Modus der Abwesenheit präsent gemacht. In fetischistischer Weise heftet das sich all-wahrnehmend wähnende Subjekt sein Begehren an jene Maschinerie, deren gesetzmäßig und kohärent organisierte Bilderflut uns vergessen läßt, daß es realiter nur Schatten auf der Leinwand zu sehen gibt. Insofern besteht eine Analogie zwischen Signifikant und Signifikat. Das Erzählkino – und insbesondere das klassisch Hollywoodsche – bemühte sich, diesen Signifikanten möglichst unsichtbar zu machen und erreichte dies hauptsächlich über die Stiftung raumzeitlicher Kohärenz über den Blick (handelnder Personen wie den der Zuschauer). Insofern verkennt sich der Zuschauer im Kino stets als Hervorbringer der filmischen Welt, vergleichbar mit jenem Prozeß, den Lacan als Spiegelstadium bezeichnet hat, jener Moment, in dem sich das noch immobile Kleinkind über sein Spiegelbild als in der Welt seiendes erkennt und damit zur Identität findet. Dieser Prozeß der Subjektwerdung fußt aber genau auf jener Verkennung (das Spiegelbild ist das Double, der Andere), die Metz auch paradigmatisch für die Kinosituation angibt. Nun liegt der Film auf der Couch, und der Zuschauer ist gleichzeitig Analytiker und Analysand.
Auf die ziemlich öde Akademisierung dieses Theorems im Zusammenhang mit der Analyse von Avantgarde-Filmen (aber auch als Input für die Praxis) wird noch zurückzukommen sein.

Für eine praktische, angewandte "kritische Ästhetik der Kinematographie" [8] heißt dies nun vorerst, dem filmischen Signifikanten seine Durchlässigkeit, Unsichtbarkeit und Transparenz zu nehmen, indem man ihn opak macht. Das beste Beispiel dafür in Tscherkasskys Œuvre findet sich in seinem Film Freeze Frame (1983). Mehrfach abgefilmte Materialien (Arbeiter an einer Baustelle, einer Müllverbrennungsanlage, industrielle Friedhöfe, ein antennenartiges Gestell, das wie ein instabiles, stumpfes Zeichen im Verlauf des Films immer wieder zusammenstürzt, ein Stück aus einem Ritterfilm) werden übereinandergelegt, überblendet und mehrfachbelichtet, sodaß sich eine eindeutige Lesbarkeit des Bildes, geschweige denn eine imaginäre Positionierung im Raum der Fiktion erst gar nicht mehr einstellen kann. Diese Art des kalkulierten Bildentzugs treibt Tscherkassky schließlich soweit voran, bis der Filmstreifen in der Hitze des Projektorstrahls angehalten wird (daher der Titel), bis er schließlich selbst verbrennt und zerhäckselt wird. Ist dieses spektakuläre Ende des Films noch ein pathetischer Kommentar zur Zerstörung eines von der Kinomaschine hervorgebrachten, klassisch strukturierten Raumbilds (natürlich verbrennt der Film nicht "wirklich"), so ist der Begriff Zerstörung innerhalb der katastrophischen Struktur, die der Film insgesamt besitzt, nur schwer zu halten. Freilich könnte man hier wieder eine Geschichte erzählen, meinetwegen die von der Destruktion spätindustrieller Arbeitswelt, urbaner Strukturen und kapitalistischer Wertzirkulation und -schöpfung über die Subversion und Aushöhlung der filmischen Zeichen im Raubritter-Kapitalismus.[9]
Doch was hier wirkt, läßt sich besser in positiven Begriffen beschreiben. Denn was hier zerstört wird, ist nur eine mögliche, wenn auch dominante, Form des Filmbildes: des nach der Gesetzmäßigkeit des monokularen Blicks lesbaren, raumillusionistischen Bildes, das die Bedingung für den reibungslosen Fluß des Bewegungs-Bildes stellt. Mit einem Mal flackert und donnert die ganze entfesselte Energie des Kinobildes in Freeze Frame über die Leinwand, eine Kraft, die die filmische Wahrnehmung verflüssigt und scheints einen primären, noch nicht (oder: nicht mehr) von narrativem Korsett und symbolischer Ordnung zusammengeschweißten Bildtypus prägt. Ein flächiges Bild, das von der Dialektik zwischen Zentrierung und Dezentrierung nichts mehr wissen will und die Ubiquität des Filmbetrachters vermittels der synchronen Überlagerung mehrerer Bildräume zu Fall bringt. Das vermeintliche Überall-Hinsehen-Können, das das klassische Kino als höchste Tugend feiert, wird hier zum Alles-auf-einmal-Sehen-Müssen; was nicht heißt, daß sich daran keine libidinösen Energien binden ließen. Auch das Erzählkino kennt jene Momente des Exzesses, der Ausschweifung und der Zurücknahme des Erzählens zugunsten des Zeigens, wenn auch innerhalb seiner eigenen, wohldosierten Ökonomie; und oft sind dies die stärksten Momente im Kino überhaupt.



Auf ähnliche Weise verfährt auch Manufraktur (1985), der nur mehr gefundenes 35mm-Filmmaterial als Ausgangspunkt hernimmt und dieses zeitlich ineinander derart heftig verschachtelt, daß jede Bewegung im Bild nur mehr dem Ganzen der Bewegung des Bildes untersteht. Schon im Titel ist damit das buchstäbliche Aufgreifen des Materials und das erneute Zusammenflicken zu flickernden Flächen angesprochen. Der Raum als solcher wird dabei dispensiert. Manufraktur ist aber auch ein Film über die Erotik (und damit jene erneute Liebe zum Kino), die beim händischen Zusammenkleben von Filmstreifen entsteht und über jene Art des Fetischismus, der den Signifikanten zum Knirschen bringt und der in der späteren Arbeit tabula rasa (1987) in elaborierter Form behandelt wird.

Die radikalste Re-Lektüre vorhandenen (Code-)Materials unternimmt Tscherkassky allerdinges in Motion Picture (La Sortie des Ouvriers d l´Usine Lumière à Lyon) (1984). Auf einer Fläche wurden fünfzig 16mm-Filmstreifen nebeneinander montiert, sodaß sich daraus ein einziges lichtempfindliches Feld bildete, auf das dann ein Einzelkader aus La Sortie des Ouvriers d l´Usine Lumière à Lyon (1895) der Gebrüder Lumiere projiziert wurde. Arbeiter der Lumière-Fabrik verlassen das Firmenareal – ein kurzes Stück Film, das schon auf die industrielle Herkunft von Film und Kino verweist. Bei Tscherkassky, der nun die fünfzig Filmstreifen aneinander hängt und durch den Projektor laufen läßt, bleibt kein figuratives Bild über, sondern lediglich dessen Grundlage:
Schwärzungen des Silbers, Schatten auf der Leinwand, dahinflackernde helle und dunkle Flächen. Der Hell-Dunkel-Code, der im Ausgangsmaterial – dem fotografischen Einzelbild – noch die Bedingung für die (räumlich-figurative) Lesbarkeit des Bildes stellte, vermag nun nur noch abstrakte Schwarzweiß-Flächen zu zeigen; und wenn es möglich wäre, einen Code zu sehen, könnte man sagen: Hier zeigt er sich. Obwohl dieses Konzept der Filmbild-Herstellung sich tendenziell vom Kino wegbewegt [10], entsteht nichts anderes als doch wiederum Film: ein Film, der die gescannte Fotografie zeitlich extrapoliert und somit die "Schrift des Realen" (Benjamin) als Schrift zeigt, die sich selbst genügt. Trotz analoger Abbildungstechnologie erreicht Tscherkassky damit eine Art Digitalisierung des Ausgangsmaterials, das nunmehr in einen binären, schwarzweißen Code aufgespalten – oder sollte man sagen: umgerechnet – wird, wobei jedes Einzelbild von Motion Picture zum Pixel des Lumière-Einzelkaders wird. Wenn man so will: ein ironischer Kommentar zu jenen filmolinguistischen Überlegungen, die sich auf der Suche nach der kleinsten bedeutungstragenden sprachanalogen Film-Einheit die Zähne ausbeißen.

Ein weiterer Schnitt durch Tscherkasskys Œuvre läßt sich entlang einer Linie ziehen, wo es um das Problem des Sehens, um das Spiel mit Gerade-Noch- und Gerade-Nichtmehr-Erkennen filmischer Präsentationen geht, just um das Begehren zu sehen und die Lust zu schauen. Ein frühes Beispiel dafür ist Erotique (1982). Eine männliche Stimme spricht den Titel im Ton, dann sieht man stumme, wabernde Bilder, Teile eines Frauengesichts, ihre roten Lippen, ihre Augen, und oft bleibt es unbestimmt, welchen Körperteil man nun gerade sieht, und welchen man sehen will. Durch mehrfaches Abfilmen und den daraus entstehenden Unschärfen, pulsierenden Lichtern, zyklischen Bewegungsfragmenten (wer will, kann Geschlechtsteile, Geschlechtsakte sehen/vorstellen/denken) verflüssigt sich das Bild zusehends, und nur sehr kurz eingeschnitte Fotos von Ballettmädchen in diversen Posen, geschminkten Augen etc. reißen aus diesem weichen Bewegungsfluß heraus. Das Sehen bleibt an Partialobjekten hängen, kein integraler, ganzer Körper gibt hier zu denken, ein Körper, den darzustellen für das Kino immer schon ein Problem war. Im narrativen Film wird dieses Problem meist damit gelöst, sich auf das privilegierteste pars pro toto, das Gesicht und den Blick, zu konzentrieren, an dem das Kino sein Menschenbild aufhängt, wobei es vor allem die Kodifizierung durch den Blick ist, die normalerweise die reibungslose Interaktion der Bewegungsbilder garantiert, damit einen illusionären Raum schafft und gleichzeitig das Phantasma des ganzen Körpers stützt. Die Auswahl der Teile ist in Erotique aber weder am Gesicht, oder – was das Gegenteil wäre – an der Verhunzung und Schändung des klassischen Körperbildes interessiert, sondern versucht dieses eher zu dekonstruieren.
Stießen sich die weichen, warm-farbigen Körperbilder zuerst noch an den unerbittlichen Filmschnitten – chirurgischen Eingriffen gleich –, so verlagert sich dieses Verhältnis (das vorher noch ein bild-immanentes war) auf das Verhältnis zwischen Ton und Bild: Als wäre schließlich ein anderes Bild zu finden gewesen als das voyeuristische Herumschnüffeln auf Körper und Gesichtsoberflächen, die sich schließlich in der Eigengesetzlichkeit des Filmmaterials und dessen Rhythmen verflüssigten [11], folgt nun eine nahezu monochrome, orange wabernde Fläche und im Ton sind qualitativ rauhe Cut-Ups einer lachenden Frau zu hören, wobei ihr Lachen gleichzeitig auch ein lustvolles Stöhnen ist. Ähnlich wie in Hans Scheugls Eroticon sublim (1968), wo man sich von der Leinwand als Projektionsfläche des eigenen, erotisierten Denkens gewahr wird, wirft auch hier die Ein-Bildung das Bild auf die Leinwand. Die Struktur und den Diskurs, den das Begehren braucht, um sich überhaupt erst ausrichten zu können, liefert der Kino-Apparat selbst.

STRIP-TEASE



Daß Avantgarde-Filme (und nicht nur diese) immer wieder und in unterschiedlichster Form auf ihr "Gemacht-Sein" und ihr Material verweisen, sich selbst also als Produkt von Arbeit zeigen und damit selbstreferentiell auf ihren Herstellungsprozeß und ihr Kino-Sein verweisen [12], ist ein alter Hut. Daß Filme mit ihren eigenen Strukturen des Begehrens, denen der betrachtenden Person (und denen des Apparats) ein munteres bis schmerzhaftes Spiel treiben, schon weniger. Peter Tscherkasskys Filme, namentlich Urlaubsfilm (1983), tabula rasa (1987/89) und Parallel Space: Inter-View (1992) verabreichen diesbezüglich jene "heiß-kalte Dusche", die Karl Sierek nimmt, wenn er beschreibt, was es heißt, "an einem Diskurs teilzuhaben, der radikal die Grundlagen seiner Rede befragt und sie – zumindest teilweise – sogleich wieder verwirft." [13]

Vergleichsweise zahm verhält sich hier noch Urlaubsfilm, der auf recht griffige Weise mit Nähe und Distanz jongliert und den sukzessiven Entzug der Schauobjekte betreibt. Eine Frau auf einer Wiese, lustwandelnd in der Totalen, in der Nahen narzißtisch versunken an sich herumtändelnd, sich dann und wann am Hintern kratzend. Hin und wieder sieht man ihren Busen durch das halbgeöffnete Hemd hindurch, die Kamera filmt sie mit starkem Teleobjektiv. Doch die Spanner-Hippie-Idylle wird radikal gestört, als die Frau plötzlich in die Kamera blickt. Sofort wird geschnitten (der Voyeur ist ertappt) und der ganze Ablauf beginnt aufs Neue.
Zwischen jeder dieser Serien ist eine kurze Negativ-Passage desselben Bildmaterials eingeschnitten, und der Ablauf wird durch vermehrtes Abfilmen des Materials abstrakter, körniger, flackernder, bis nun schließlich nur mehr ein ausgefahrenes, "zerfilmtes" Bild übrigbleibt. Mit jedem Anlauf wird der erotische Anblick zunehmend zum Erinnerungsbild (an die vormalige relative Klarheit) und wir dringen nun nicht mehr zu einem vom primären Blick der Kamera begehrten Blick-Objekt vor, sondern zerstreuen und erfreuen uns an der Flächigkeit des ikonischen Gewabers auf der Leinwand, informationstheoretisch gesprochen: berauschen uns am Rauschen des Signifikanten.

Mit der Thematisierung von imaginärem Voyeurismus und der Leinwandoberfläche (dem einzig Realen im Bildfeld) als Fetisch, versucht Tscherkassky in seiner Symphonie tabula rasa (die leere Tafel, die Leinwand) zum symbolischen Diskurs (zum Reden/Denken über) hinzuführen, womit er implizit eine theoretische Forderung von Christian Metz in die filmische Praxis umsetzen will. tabula rasa darf diesbezüglich als Tscherkasskys reichster und schönster Film gelten, zumal hier vorangegangene Arbeitsweisen und "Themen" in einem Film zusammenfinden, muß sich aber mitunter auch den Vorwurf des Lehrfilmhaften gefallen lassen, vor allem was die Segmentierung in einzelne "Kapitel" mit Zwischentiteln betrifft.

 


Zu Beginn nimmt der Film eine Art Umkehrung der Entzugskur aus Urlaubsfilm vor. Nach einem kurzen visuellen Found-Footage-Motto, das dem Titel des Films vorangestellt ist – Cowboys, die sich nächtens an etwas anpirschen und dann gierig ins Off blicken, weil es dort offensichtlich etwas zu sehen gibt –, ist es zunächst einmal einige Sekunden völlig schwarz auf der Leinwand. Nach und nach huschen weiße und blaue Lichtflecken über die Leinwand, nicht nur das Filmkorn und der Film im Projektor bewegen sich nun, sondern offensichtlich auch etwas dahinter, bzw. vor einer – empirischen – Kamera. Plötzlich, und sehr kurz, schärft das Auge der Kamera nun auf die Oberfläche menschlicher Haut, später schälen sich aus den Unschärfen und Schatten körperliche Konturen. Der Zwang zur Darstellung im eigenen Kopf ist am Werk. Diese Kristallisationsbewegung vom Schwarz der Leinwand über das bewegte Licht bis zur erkennbaren Oberflächenstruktur der Haut ist spannend; und zwar in der ganz konventionellen Bedeutung des Begriffs. Das Flackern des Lichts kündet an, daß da etwas


kommen wird, daß es bald etwas zu sehen geben wird, ein Code, den Roland Barthes den proaïretischen genannt hat.[14]
Eine zweite Bewegung ergibt sich aus der Fragestellung, was denn da nun kommen würde, die Frage also nach einem Dahinter, Danach – ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Barthes nennt diesen Code hermeneutisch.[15] Schon in diesem kleinen Filmpartikel haben wir es also mit Narrativität zu tun, als kalkulierte Spannung zwischen einem Davor und Danach. Deshalb nimmt es auch nicht Wunder, daß diese Spannung dann mit einer plötzlichen Enthüllungsgeste, dem Bild einer nackten Frau, die sich vor der lüstern suchenden Kamera bewegt.

Sofort wird dieses Bild, hat es sich nun einmal als solches in aller Klarheit auf der nun transparenten Leinwand gezeigt, entzogen, wandert als Bild im Bild, als Rahmen im Rahmen – als Leinwand auf der Leinwand – in die rechte Bildhälfte. Das Bild, das zuvor noch die reale Leinwand gefüllt hatte, wird nun als Fetisch vom Blick des Beobachters entzogen (narratologisch könnte man auch sagen: es stellt sich als Fetisch heraus...die schwarzen Strümpfe, die die Frau anhat, tun ihr übriges). Damit zeigt sich schon eine der Bedingungen des filmischen Voyeurismus. Nun aber wendet sich Tscherkasskys Film gegen sich selbst und kehrt das Verhältnis blickende Kamera/angeblicktes (Lust-)Objekt um und geht dabei den Umweg über das imaginäre Spiegelbild – "le miroir illuminé", in den Spiegel hineinleuchten, Alice im Kinoland – und findet dort das Filmnegativ, wenn man so will: das Unbewußte des Films. Und schließlich: "le mirage allume", die leuchtende Spiegelung/Täuschung, aber auch (als Wortspiel): die Aluminium-Täuschung. Bild und Bild-im-Bild sind nun übereinandergelegt, finden in einem Feld zusammen – die Leinwand als Spiegel.

 


Auf dem Weg vom Bild zum Apparat, das dieses erst hervorbringt, findet Tscherkassky die Kamera ("hidden hiding") und zeigt sich selbst filmend im Spiegel und spiegelt damit jenes primäre Blickverhältnis von Zuschauer/Filmemacher/Kamera-Blick aus, verliert sich in den Anblick der Linsenoptik, filmt einen Fensterrahmen (der wiederum den Bildrahmen doubelt), durch den das Sonnenlicht wie der Strahl des Projektors fällt und auf das blickende Subjekt fällt – bis schließlich alles bisher Gesehene einander überlagert.

In einer weiteren Entzugskur wird schließlich das Bild und das Licht "entwendet", dem Blick und dem Zugriff des Betrachters entzogen.

In einer großen Schlußfuge ("la lumière imaginaire") wiederholen sich und interagieren einzelne "Motive" als Bild-im-Bild, bis dieses in jenen Apparat zurückkehrt, das es erst hervorgebracht hat – das Bild-im-Bild verschmilzt, nachdem es sich noch ein paar Mal flackernd dagegen gewehrt hat, mit dem realen Weiß der Leinwand: Die Geschichte ist zuende, alle syntagmatischen Klammern, die der Film auf seiner metaphorischen Reise durch die psychoanalytische Filmtheorie aufgemacht hat, werden geschlossen. Hier kann das Kino nichts mehr zeigen (außer der Signatur des Filmemachers), zumal es sich bis auf die Haut, die Leinwand, entblößt hat.



Ein weiterer Versuch, die Arbeit am imaginären Signifikanten zu narrativisieren und damit zu symbolisieren, also: als Lektüre-Arbeit am Filmtext sicht-, hör- und damit erfahr- bzw. lesbar und nicht bloß sichtbar zu machen, ist die bislang letzte Arbeit Parallel Space: Inter-View. Tscherkasskys Film ist Reisefilm, Horrorfilm, talking-cure-Essay, Wortspiel, wissenschaftlicher Lehrfilm, Vexierbild und Psychodram gleichzeitig; eine fiktive Reise in ein fiktives Ich einerseits und ein psychoanalytischer Wo-Es-war-muß-Film-Werden-Trip andererseits.
Technisch wurde der Film in der Fotokamera hergestellt. Die Größe eines fotografischen 24x36-Kleinbildnegativs entspricht exakt der Größe zweier 35mm-Filmkader. Im Projektor sieht man nun jeweils die eine und die andere Hälfte kaderweise alternierend hintereinander, sodaß sich ein Flickern ergibt, welches die beiden Bildräume gleichzeitig trennt und verzahnt. Mit einer im Ton zu hörenden Briefbotschaft wendet sich der (fiktive) Filmemacher an eine Person namens Tim, bedankt sich "for the use of your space" und meint, daß er einen streng strukturellen Film machen wollte, daß sich aber jetzt herausgestellt hätte, daß es der persönlichste sei, den er je gemacht hätte. "Basically what I tried to do was to...", hören wir noch – doch wir werden es ja ohnehin sehen und hören. Die händisch geschriebenen Über-Schriften "The Physics of Seeing" und "The Physics of Memory" verheißen eine Reise durch vielerlei Parallel-Räume: den der klassischen Renaissance-Perspektive, welcher der Kinematographen-Apparat seine optische Herkunft verdankt; den Raum des Blickenden und den Raum des Angeblickten, die virtuellen Räume in Kino, Computer und TV, durch die strenge Kammer der Psychoanalyse und den Zeitraum der Erinnerung, den imaginären Raum hinter dem Spiegel und den Kinoraum, das Positivbild und sein Parallel-Universum im Negativ, vor allem aber die Räume der Geschlechter. Insofern ist Parallel Space: Inter-View monströs, weil sich der Film eigentlich im Dazwischen dieser Räume bewegt und jeder dieser Räume seine eigenen Fluchtlinien bildet, die sich nur mit Gewalt zur Deckung bringen lassen.[16] Um einige Fäden durch dieses multiperspektivische Gewusel zu ziehen, bedient sich Tscherkassky der Schrift, die über einen Computerbildschirm zieht und über das Wort "I" eine Art Erzähler bildet, an den sich die einzelnen Episoden des Films zumindest tendenziell binden lassen.
Parallel Space
ist ein Film über das ständige Umpolen des Bildes und seines Bezugs zum Betrachter, der in den Fluchtpunkten zwar ständig zu verschwinden droht, wo die Blicke der Kamera, wenn sie durch die Spiegel fährt, und die Blicke der "handelnden" Personen ebendiesen Betrachter aber ständig re-inszenieren, freilich auch distanzieren. Etwa wenn eine Szene zwischen Montgomery Clift und Lee Remick aus Kazans Wild River mit dem Blick einer in die Kamera blickenden Frau verknüpft und dabei das klassische Blickregime des Hollywoodfilms über die Wirkung des unerbittlichen Blicks der Frau bloßgestellt und (ana)lysiert wird.

Und so läßt sich jede einzelne szenographische Episode im Film nahezu an ein vergleichbares psychoanalytisches Theorem anbinden. Schon am Beginn werden Couch und Fauteuil auch zum Setting für den gesamten Film, der – nachdem er Spiegelphase, Kastrationsangst, psychotische Orientierungslosigkeit (Horrorfilm!), Familienroman, ödipalen Konflikt und Urszene in seinen wild flackernden Hypnosen bereist hat – bei Melanie Kleins "Phantasma des zerstückelten Körpers". Das stotternde, zerhackte Foto des Säuglings, seine Augen – Ödipus gleich – blind und ausgebrannt, von der Fotographie immobilisiert, im Ton gelooptes orgasmisches Stöhnen – kein ganzes, gutes Objekt ist da mehr, an das man sich binden könnte. Für das Ende des Films, nachdem sich sowohl Spiegel-/Kinobild als auch jener Raum als trügerisch erwiesen haben, den das Kino konstruiert und damit ein sich selbstidentisch wähnendes Subjekt zu konstruieren, bedeutet dies: Melodram. Das Kino nicht mehr lieben, und doch...

Traurige Musik setzt ein: "Remember...I was looking for you." Ich habe dich gesucht, aber auch: Ich habe an deiner Statt gesehen, oder: Ich habe für dich gesehen.



DANACH

Gerade anhand der letzten beiden Filme von Peter Tscherkassky wird evident, wie problematisch es ist, den Bezugsrahmen zwischen Avantgarde und narrativ-industriellem Kino aufrechtzuerhalten, zumal diese Arbeiten ihre eigenen Grundlagen mindestens so radikal befragen wie die des "Normal-Kinos" außerhalb. Es genügt eben nicht, zu sagen, dieser Avantgarde-Film XY stelle die Wiedergabe von Realität im repräsentativen Kino in Frage. Eine Vorgehensweise, die altgediente Dichotomien wie repräsentativ/nicht-repräsentativ aufrechterhält, um den "Blick auf Wirklichkeit" in den scheints festgefahrenen Blöcken Normalkino und Avantgarde-Kino unterscheiden und gegeneinander ins Feld schicken zu können, erscheint mir dabei höchst zweifelhaft. Eine andere, nicht-konventionalisierte Form filmischer Wahrnehmung bezieht ihre Wirkung zunächst einmal aus dem Setzen von Qualitäten und weniger weil diese (berechtigte und ohnehin immer überfällige) Kritik an herkömmlichen Arten von Film übt (bonafide vorausgesetzt, daß sich die Erkenntnis, hier würden dominante Formen des Kinos dekonstruiert, überhaupt einstellt; das hieße dann, sich Avantgardefilme anzuschauen, um aufs industrielle Kino wieder einmal böse sein zu können).
Wenn etwa die Avantgardefilme von Tscherkassky das böse Objekt Avantgarde-Film gegenüber dem guten, ganzen Objekt Normalkino privilegieren, dann erledigt es spätestens der psychoanalytisch-semiotische, mittlerweile ziemlich despotische, akademisch-öde Erklärungsdiskurs, der sich vor seinen und um seine Filme im (vor)filmischen Verbund rankt, ebendiese wieder zu guten, weil kohärenten, nun doch wieder funktionierenden und – unter den Prämissen der alten Theorie – wieder lesbaren Objekten zu machen (mit Metz/Lacan im Kopf macht man Filme und mit Metz/Lacan spricht man auch über Filme – diesen Vorwurf muß sich auch der vorliegende Text gefallen lassen).
Zweifellos sind einzelne Theoreme von Metz/Lacan/Freud in Tscherkasskys Filmen in metaphorischer Weise symbolisiert worden.[17] Gleichzeitig hat Maureen Turim etwa an tabula rasa kritisiert, daß es sie gestört hätte, daß der Frauenkörper dann erst recht wieder so "erkennbar und klassisch dargestellt wurde." [18] Man könnte nun antworten, daß dies hier nur auf einer Metaebene passiert (ein Über-Schmäh), um sich gerade dieses Moment des Voyeurismus reflexiv gewahr zu werden. Doch dieses Argument ginge ins Leere, denn nicht das Bild ist metaphorisch, sondern das Setting in dem es präsentiert wird. Das Bild selbst verschwindet ja nicht, es wird zwar bearbeitet, und dann wieder entzogen. Es geht dabei nicht um repräsentativ und nicht-repräsentativ, denn repräsentiert wird hier allemal, im Sinne von wieder zur Anschauung gebracht. Dieser Prozeß mag als Symbolisierung eines imaginären Ablaufs metaphorisch sein, wenn man so will: die Geschichte vom Funktionieren des Voyeur&Fetisch-Apparats Kino. Aber Meta oder nicht Meta, das Verhüllte, schwer decodierbare macht in tabula rasa umso geiler auf das Sichtbare. Und der Effekt ist der, daß man sich als Voyeur ertappt fühlt. Die katholische Bildfülle verleitet zum katholischen Schuldkomplex.[19] Glatteis.

Daß die Psychoanalyse (und das Mama-Papa-Spiel) hier alles auffrißt, was sich ihr in den Weg stellt, daß sie, um mit Deleuze zu sprechen, "alle Produktionen des Begehrens niederwalzt", daß für sie alles, was sie "Produktion und Formation des Unbewußten nennt", nur aus "Verfehlungen, Versprechern, Konflikten, Kompromissen und Wortspielen" besteht und das, was sie uns beibringt, "Mangel, Kultur und Gesetz" [21] sind – ein Indiz dafür mag nicht zuletzt Metz´ Antwort auf die Frage sein, wie sich denn Semiologie mit Cinephilie vereinbaren ließe: "Eine Wissenschaft, die die Transparenz des filmischen Signifikanten in Frage stellt, wird immer unpopulär sein: Wer will schon sein geliebtes Spielzeug kaputtmachen?"[21] Jegliche anderslautende Argumentation zum Kino wird somit zum Vermeidungsakt, mit dem man nicht über das Eigentliche sprechen will; und das Verhältnis dessen, der dies tut, zum Kino wird mit dem infantilen Szenario des Spielzeugwegnehmens erklärt. Wo die Psychoanalyse einmal das Gras wachsen hört, dort wächst auch keines mehr.

Zugegeben, es bleibt schwierig, bei der Ansicht von Tscherkasskys jüngeren Filmen – hat man den Braten einmal gerochen – aus der Lacan/Metzschen Spur auszuscheren. Das Problem: den Gegenstand (die Filme) mit dem Denken, das diesem voraus- und vor allem nacheilt zu verwechseln. Heißt es eigentlich automatisch, wenn man ein Spiel mit den Grenzen der Repräsentation treibt, man das ganze Kino (die Bedingung) mit niederreißt? Oder ist es nicht vielmehr so, daß hier eine Theorie, die vom Begriff der Repräsentation ausgeht, auf Granit beißt? Denn in Motion Picture etwa wird das Kino als solches eigentlich überhaupt nicht gefährdet, hier findet man höchstens einen primären Bild-Typus, ein abstraktes Flackern, you name it. Bemerkenswert daran ist aber, daß hier nicht das Kino an seine Grenze stößt, sondern eine Theorie, die stets vom klar erkennbaren und identifizierbaren Bild ausgeht.

Es wäre jedoch ein fades Geschäft, Tscherkasskys Filme auf ihre Bezüge zur Metz/Lacanschen Theorie hin abzuklopfen. Seine Filme liefern ein eindrucksvolles Beispiel, wie sich die sogenannte 3. Generation des österreichischen Avantgarde-Films Diskurse der Vergangenheit angeeignet hat, um sie auf neue Art weiter zu entwickeln. Wenn dabei wieder Konzeptionen von Narrativität in Erwägung gezogen werden und Eingang in die Filme nehmen, dann ist dies nicht als Rückschritt zu werten, sondern verlangt nach einer weiteren Theoretisierung des Begriffs Narration ebenso wie nach Begriffsbildungen zum Kino-Bild, die über die psychosemiotischen Pragmatismen hinausweisen. Schon allein deshalb, weil neuer Wein in alten Schläuchen meist brackig wird.

Quelle: Michael Palm, "Liebesfilme. Zu einigen Arbeiten von Peter Tscherkassky", in: A. Horwath/L. Ponger/G. Schlemmer (Hrsg.), "Avantgardefilm. Österreich 1950 bis heute", Wien 1995 (Wespennest)

  1

Das Buch von Christian Metz erschien erstmals 1977 in Paris (Union Générale dÉditions, 10/18). Ich beziehe mich auf die englische Übersetzung des Buches Psychoanalysis and Cinema. The Imaginary Signifier, London 1985.

  2

Metz: a.a.O., S. 15. (Übersetzung: M.P.)

  3

vgl. Metz: ebd.

  4

In dieser Hinsicht ähnelt Liebesfilm Martin Arnolds pièce touchèe (1988/89).

  5

David Bordwell, Janet Staiger und Kristin Thompson: The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. London 1985.

  6

Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn man annähme, daß hier nur ein Unbewußtes des Films freigelegt würde. Es wird eher eine neue Fluchtlinie des Materials ins ästhetische Kalkül einbezogen, und nicht in ein ursprüngliches, primäres und frei flottierendes Signifikantenmaterial „hineinanalysiert".

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vgl. etwa ein Interview, das Karl Sierek mit Tscherkassky geführt hat. In: blimp Nr. 9, Graz 1988, S. 24f.

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So der Untertitel von Tscherkasskys Dissertation "Film als Kunst" (1986)

  9

Oft genug jammern Avantgardisten ja darüber, daß sich Werbung und Kulturindustrie (Videoclip!) gut und gern beim Avantgardefilm bedienen, um sich attraktive visuelle Oberflächen zu verschaffen.

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In seinem Text Die 4000 Augen des Dr. Tscherkassky vergleicht Karl Sierek den konzeptuellen Ansatz von Motion Picture mit der technologischen Grundlage des Fernsehbildes: „Auf der Leinwand erscheint genau jener Vorgang des Aufrasterns und Abtastens einzelner Bildpunkte, den wir von der elektronischen Bild-Synthese des Videoschrims kennen. Ein Kader aus dem ersten Bewegungs-Bild wird also analog einer Technik re-animiert, die eben jene Bewegungs-Bilder zu verdrängen droht." In: Die Schatten im Silber. Österreichische Avantgarde-Filme 1976-1987. Katalog zur gleichnamigen Avantgarde-Filmschau im Museum des 20. Jahrhunderts. Wien 1987, S. 13.

11

Manchmal erinnern die Aufnahmen an medizinische Filme aus dem Körperinneren.

12

Im Unterschied zum Hollywood-Kino etwa, wo alles immer völlig mühelos und selbstverständlich aussieht und man in materialistischer Manier von der bürgerlich mythologisierenden Verdrängung des Produktionsapparates und der Arbeitskraft sprechen könnte. Zu fragen wäre innerhalb dieser Argumentationslinie allerdings, inwieweit gerade beim demonstrativen Herausstellen technologischer Innovationen, aufwendiger special effects, astronomischer Star-Gagen etc. spätestens seit den späten siebziger Jahren (kein klassisches Kino mehr!) nicht gerade ein umgekehrter Effekt erreicht wird, betrachtet man etwa, wie sehr eine gezielte Werbepolitik im Vorfeld dieser Filme gerade den hohen Einsatz von Geld, Technologie und Arbeitskraft betont. Interessant dabei ist, wie gerade diese Selbstreferenz sich wieder in den Kreislauf kapitalistischer Märkte re-investieren läßt.

13

Karl Sierek: Ziemlich abstrakt. In: Das Licht der Peripherie. Katalog zur gleichnamigen Avantgarde-Filmschau im Museum des 20. Jahrhunderts. Wien 1988, S. 12.

14

vgl. Roland Barthes: S/Z. Frankfurt 1976, S. 23f.

15

ebd.

16

In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Aufsatz Die Physik des Sehens von Gabriele Jutz verweisen, die in ihrer ausführlichen Besprechung des Films versucht, diese monströse Bilder- und Bedeutungsfülle einigermaßen zu bändigen. In: blimp Nr. 22/23, Graz 1993.

17

Böse Zungen nennen dies „Theorieverfilmungen".

18

in einem Interview mit Alexander Horwath. In: blimp Nr. 16: Sonderheft Found Footage, Graz 1991, S. 50.

19

In Bezug auf die Sexismus-Debatte wäre Parallel Space: Inter-View dann ja auch die „politisch korrektere" Variante.

20

Gilles Deleuze, Claire Parnet: Dialoge. Frankfurt 1980, S. 85.

21

Dominique Blüher u. Margrit Tröhler: "Ich hätte nie gedacht, daß die Semiologie die Massen begeistern würde." Ein Interview mit Christian Metz, in: Film Bulletin Nr. 2, April/Mai 1990, S. 27.